Gemeinsam mit dem Anarchistischen Kollektiv Köln und anderen haben wir die Demo gegen den Naziaufmarsch in Remagen im November 2016 zum Anlass genommen einen Flyer zum Thema Antisemitismus zu schreiben und dokumentieren ihn nun endlich auch hier auf unserer Website.
Antisemi..what??
Arten des Antisemitismus
Antisemitismus beschreibt ganz allgemein Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen. Diese äußert sich in Alltagsdiskriminierung wie Vorurteilen, Stereotypen und Ausschlüssen aus der Mehrheitsgesellschaft, aber auch in körperlicher Gewalt. Es gibt verschiedene Arten des Antisemitismus, die über offene “Judenfeindschaft” hinausgehen. Dieser kurze Erklärungstext bietet keinen Raum für eine angemessene und ausführliche Antisemitismusdefinition und kann das Problem nur stark vereinfacht beschreiben um einen Überblick zu geben.
Den gesamten Flyer könnt ihr hier lesen:
Der religiös motivierte Antijudaismus des Christentums ist eine Art des Antisemitismus, deren Kritik inzwischen selbstverständlicher Teil von Schulbildung ist. Auch rassistischer Antisemitismus, der auf das rechte Weltbild der “Rassenbiologie” zurück geht wird relativ häufig thematisiert. Dabei ist wichtig zu beachten, dass Antisemitismus nicht einfach eine Form des Rassismus, sondern eine eigenständige Herrschafts- und Diskriminierungsform ist. Ein wichtiger Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus ist, dass jüdische Menschen im Antisemitismus als übermächtig und überlegen, dabei aber moralisch minderwertig, gesehen werden und im Rassismus die Diskriminierten als allgemein minderwertig dargestellt werden.
Die Shoa, der industrielle Massenmord an jüdischen Menschen durch das NS-Regime und all seine Unterstützer_innen, hat über 6 Millionen jüdische Menschen umgebracht. Vor allem Neo-Nazis, aber auch Verschwörungsideolog_innen wie die Reichsbürgerbewegung, behaupten gerne, diese hätte entweder gar nicht oder nur in geringerem Maße stattgefunden. Ihrer Meinung nach manipulierten jüdische Menschen die Geschichtsschreibung um von ihrer so entstehenden Opferrolle zu profitieren.
Diese NS-relativierende bis -verherrlichende Verdrehung der historischen Ereignisse nennt sich sekundärer Antisemitismus. Hierzu gehört auch der weit verbreitete Vergleich von Israel mit dem NS-Regime (“Israel verübt einen Holocaust an den Palästinensern”), dem sich auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft sowie antiimperialistische Linke bedienen.
Antizionismus ist das spezifische Ablehnen des Staates Israel (ihm das Existenzrecht absprechen). Nachdem der Antisemitismus seinen Höhepunkt in der Shoa fand, muss es jedoch einen Schutzraum für alle jene, die vom Antisemitismus verfolgt werden, geben, um eine Selbstverteidigung gegen antisemitische Angriffe zu ermöglichen. Zwar ist es unsere Utopie, dass irgendwann alle Nationalstaaten abgeschafft sind, dennoch können realpolitische Tatsachen zugunsten utopischer Vorstellungen nicht einfach ignoriert werden. So ist zumindest bis zur Überwindung des globalen Antisemitismus das Existenzrecht Israels als Schutzraum notwendig. Dabei ist die Existenz des Schutzraumes nicht auf Ewig an einen Staat gebunden, sondern kann prinzipiell auch hierarchiearmer organisiert werden.
Antizionismus dient sowohl Nazis, anderen Rechten, Islamist_innen als auch linken Antisemit_innen dazu, ihren Hass auf jüdische Menschen und ihre Religion unter vermeindlicher Gesellschaftskritik zu tarnen. Dabei werden jedoch sehr häufig uralte antisemitische Argumente verwendet, wenn es darum geht, den Staat Israel zu kritisieren und ihm sein Existenzrecht abzusprechen. So z.B. die Kindermordlegende und andere Verschwörungstheorien. Nicht jede Kritik an der Realpolitik der israelischen Regierung muss antisemitisch sein. Die Frage ist jedoch, mit welcher Intention die Kritik geübt wird. So ist es z.B. fragwürdig, wenn fast ausschließlich die israelische Politik kritisiert und die anderer Staaten ignoriert wird.
Struktureller Antisemitismus bezeichnet Argumentationsstrukturen, die sich nicht offen gegen jüdische Menschen richten, aber dennoch antisemitische Legenden enthalten. Diese gehen auf die Zeit von Mittelalter bis Nationalsozialismus zurück. Beispiele hierfür sind Darstellungen von “gierigen Bösen” mit Hakennase und Buckel, Parasiten-Rhetorik (“Zinsknechtschaft”, “raffendes Kapital”) oder Vergleiche mit Krankheiten wie z.B. “wuchernden Krebsgeschwüren”. Auch Theorien, die von Fremdsteuerung und Verschwörung durch “die da Oben” handeln (“Hinterzimmer”, “Bilderberger”, “die Rothschilds”,…), gehen auf antisemitische Erfindungen zurück.
Querfront und Antisemitismus von Links
Antisemitismus mit all seinen Spielarten geht nicht nur von der extremen Rechten aus, sondern ist auch Teil der Ideologie der bürgerlichen Mitte, Islamist_innen und autoritären Linken. Antisemitismus findet sich in allen Gesellschaftsschichten von Stammtischrassist_innen zu Akademiker_innen.
Vor allem struktureller und sekundärer Antisemitismus sowie Antizionismus dienen als Schnittstelle einer gesellschaftskritischen Querfront durch viele politischen Strömungen. Unter dem Motto “Hauptsache gegen das derzeitige System/ den Kapitalismus/ die aktuellen Herrscher” wird die Vielzahl an Herrschafts- und Diskriminierungsverhältnissen ignoriert. So arbeiten häufig antiimperialistische Linke mit Islamist_innen oder Verschwörungsideolog_innen zusammen. Auf diese Art wird aus angeblich positiven Vorhaben eine Gefahr für das gute und selbstbestimmte Leben aller Menschen.
Da wir bereits erwähnt haben, dass es auch unter Linken Antisemitismus gibt, wollen wir noch konkrete Beispiele dafür nennen.
Dazu zählen wir die Ereignisse am jüdischen Friedhof in Remagen am 21.11.2015. Während der Proteste gegen den Naziaufmarsch wurde dort von libertären Genoss_innen eine Kundgebung angemeldet. Eine Person war durch eine Kippa als jüdisch zu erkennen, eine andere trug eine Israelfahne. Als ein Demoblock aus antiimperialistischen Gruppen und Personen an dieser Kundgebung vorbei zog, wurde den Teilnehmer_innen der Kundgebung u.a. „Intifada“ entgegengerufen.
Der Begriff „Intifada“ bezeichnet palästinensische Aufstände, bei denen es zu massiven Angriffen und Anschlägen sowohl gegen israelische Polizist_innen und Soldat_innen als auch gegen Zivilpersonen und Palästinenser_innen, die beschuldigt wurden, mit israelischen Behörden zusammen zu arbeiten, kam. Sie resultierten nicht nur aus den u.a. von den palästinensischen Regierungen geschaffenen miserablen sozialen Verhältnissen, sondern waren auch nationalistisch, religiös und antisemitisch motiviert. Das Rufen von Intifada-Parolen gegenüber Teilnehmer_innen der Kundgebung ist daher nicht nur eine romantische Erinnerung an vergangene Proteste und Aufstände, sondern eine kaum verhüllte Drohung.
Auch wurden die Genoss_innen als “Faschisten” beleidigt und der Staat Israel mit dem NS verglichen. All dies ist Teil eines antizionistischen Antisemitismus, wie er oben erklärt wird.
Ein weiter zurückliegendes Beispiel für mörderischen Antisemitismus von Linken ist die Flugzeugentführung von Entebbe im Jahr 1976. Bei dieser wurden u.a. durch deutsche Mitglieder der Revolutionären Zellen die Geiseln danach selektiert, ob sie von den Entführer_innen für jüdisch gehalten wurden oder nicht. Die vermeintlich nichtjüdischen Geiseln wurden frei gelassen, die übrigen erst durch israelische Spezialeinheiten befreit.
In diesem Zeitraum gab es in der BRD einige linke militante Gruppen, die eng mit palästinensische Gruppen verbunden waren, deren antizionistischer und struktureller Antisemitismus sich in ihren Anschlägen zeigte. Diese können jedoch nicht getrennt von der restlichen, nicht-militanten Linken dieser Zeit betrachtet werden. So lange Antisemitismus Teil von Theorie und Ideologie linker Gruppen und Bewegungen ist, besteht die Gefahr, dass sich dieser in der Praxis gewalttätig bis tödlich äußert.
Antifa heißt: Antisemitismus verstehen, reflektieren, bekämpfen – auch in der eigenen Bewegung/Szene!
Interventionsmöglichkeiten gegen Antisemitismus gibt es reichlich. Ein grundlegender aber nicht genügender Schritt ist die theoretische Weiterbildung und Selbstreflexion. Es reicht aber nicht aus, ein paar Texte zu schreiben um der antisemitischen Haltung in sozialen Bewegungen etwas entgegen zu setzen.
Bis heute wird sowohl innerhalb sozialer Bewegungen als auch in der eigenen Szene, immer noch verkürzte Kapitalismuskritik, welche meist (mindestens strukturell) antisemitisch ist, nicht oder nur ungenügend als solche entlarvt und kritisiert. Ob auf Demonstrationen gegen die Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA oder bei Großdemos gegen die G8-Gipfel: überall finden sich Karikaturen, Forderungen und Propagandamaterial mit antisemitischen Inhalten oder Anspielungen.
Aus privilegierter Position heraus ist es leicht, sich ausschließlich mit den Herrschaftsmechanismen auseinander zu setzen, die eine_n selbst betreffen. Solange aber die Reflexion über andere Betroffenheiten verweigert wird und die realen – teilweise mörderischen – Auswirkungen diverser herrschaftsfestigender Weltbilder ignoriert werden, kann es keine befreite Gesellschaft geben.
Lasst uns also gemeinsam daran arbeiten, das Verstehen und Bekämpfen von Antisemitismus mit all seinen Spielarten in der antifaschistischen, linken und anarchistischen Szene zur Selbstverständlichkeit zu machen.
Ziemlich guter Text! Ich habe eine Anmerkung zu folgendem Abschnitt:
„Nachdem der Antisemitismus seinen Höhepunkt in der Shoa fand, muss es jedoch einen Schutzraum für alle jene, die vom Antisemitismus verfolgt werden, geben, um eine Selbstverteidigung gegen antisemitische Angriffe zu ermöglichen.“
Die Notwendigkeit für einen jüdischen Staat ergibt sich nicht erst durch die Shoah. Jüd_innen werden seit Jahrtausenden verfolgt. Antijüdische Pogrome fanden schon Jahrhunderte vor der Shoah statt. Zionistische Bestrebungen gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. All dies ist schon Grund genug für einen jüdischen Staat. Leider hat die Weltgemeinschaft das erst nach der Shoah begriffen.